Wer kämpft hier eigentlich für wen?

Mindestens seit dem 24. Februar ist aus der unterschwelligen, leider oft genug verdrängten Ahnung wieder echte Gewißheit geworden: Frieden ist ein großes Geschenk. Nicht nur im christlich-abstrakten Sinne einer transzendental-österlichen Versöhnung mit dem Tod, sondern ganz unmittelbar für uns Alltagsmenschen, die wir täglich unserer Arbeit und unseren privaten Zerstreuungen nachgehen.

Die große Crux in diesem Zusammenhang ist, dass reichhaltig Beschenkte selbst in weitgehend pazifizierten Gesellschaften immer wieder zum Überdruss neigen. So markiert der 24. Februar nicht allein den russischen Angriffstermin auf die Ukraine, sondern auch das Startsignal für eine längst überwunden geglaubte Kriegsrhetorik, grell eingefärbt durch ein krasses Schwarz-Weiß-Raster und mittlerweile angefüllt durch ganz viel Hohn und Spott für die blutigen Opfer des Gegners. – Was geht hier in uns vor? Sind das nur randständige Atavismen, die wieder verschwinden? Oder steckt da eine echte Disposition dahinter? Und vor allem: Wissen wir überhaupt, wo aktuell die Fronten verlaufen? Wer hier für was oder wer hier gegen wen zu Felde zieht?

Die gegen uns

Auf den ersten Blick scheint alles klar und eindeutig: die Ukraine kämpft für die Freiheit des Westens und der Russe maximal für sein dunkel-abgründiges Ego. Alle Schuld liegt hinter den Mauern des Kreml und der ukrainische Präsident ist der große Held in einem epischen Drama.

Diese Sicht auf die Dinge läßt sich – angesichts der Zeichen- und Bilderflut –  nur schwer entkräften. Zu unmittelbar stehen wir unter dem Eindruck der aktuellen Geschehnisse. Zerstörte Städte, Leichen von getöteten Zivilisten auf den Straßen und ganz viel Angst und Entsetzen in den Gesichtern der Menschen. Wer kann ernsthaft bezweifeln, dass es sich bei der russischen Intervention um einen lupenreinen Angriffskrieg gegen die Regeln des Völkerrechts handelt.*

Kein Konflikt ohne Vorgeschichte

Wie alle großen militärischen Konflikte hat natürlich auch der Ukraine-Krieg seine Vorgeschichte. Ungelöste Territorialfragen, mißachteter Minderheitenschutz, sich widersprechende Sicherheitsinteressen, Großmacht-Ambitionen gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Alles Fragen- bzw. Themenkomplexe, auf die sich keine einfachen Antworten finden lassen und die in der akuten Kriegsberichtserstattung leider nur ein Schattendasein fristen. Zu stark wirkt der Hang, die Dinge im lauten Eskalationsmodus zu kommentieren, statt mühevoll und geplagt von kognitiven Dissonanzen nach den komplexen Ursachen und Hintergründen der Ereignisse zu fahnden.

Trotzdem sollte keine Möglichkeit ungenutzt bleiben, um dem Geschehen – abseits der Alltagshysterie – über einige historische Bezüge näher zu kommen. Wohl wissend, dass das nicht einfach ist und zweifellos auch Widersprüche hervorrufen dürfte.

Historische Vergleiche

Zur Entkräftung allfälliger Einwände gleich der Hinweis: Historische Vergleiche implizieren keine Gleichsetzung. Sie sind lediglich Mittel zum Zweck und keine Bedienungsanleitungen für Gegenwartsprobleme. Sie dienen allein der Erhellung der aktuellen, mit dichtem Pulverdampf verhängten Szenerie und sollten zumindest ein paar schmale Schneisen schlagen für mehr Erkenntnis in dunkler Zeit.

– Motive der Angreifer

Spätestens seit der Antike bzw. seit der Hochphase des Römischen Imperiums wissen wir, dass imperiale Grenzen in der Regel keine festen Linien auf der Landkarte sind. Herfried Münkler spricht in diesem Zusammenhang von Grenzsäumen, deren Konturen und Tiefe oft unbestimmt sind und die von den imperialen Zentren aus im Regelfall als Pufferzonen ausgebaut, gelegentlich mit  Grenzbefestigugen abgesichert werden. Während maritime Großreiche wie ehemals das British Empire und heute die USA üblicherweise die Ozeane, Meere und Nebenmeere als Schutzzonen nutzen können und sich auf Stützpunkte entlang der Küsten beschränken, gehen Kontinentalimperien regelmäßig den Weg über asymmetrische Bündnisse mit Grenzvölkern.

Vieles deutet daraufhin, dass genau hier das Nahziel der russischen Expansion an ihrem westlichen Grenzsaum zu verorten ist. Ob die russischsprachige Minderheit in der Ostukraine und auf der Krim tatsächlich bereit ist, diese „Föderaten-Rolle“** wirklich freiwillig zu spielen, darf angesichts der Kriegsschäden bzw. der immensen Kriegsopfer unter eben dieser Minderheit in den zurückliegenden Wochen durchaus bezweifelt werden.

– Motive der Verteidiger

Die Motivlage der Angegriffenen ist voll und ganz geprägt durch das David-gegen-Goliath-Motiv. Alles läuft darauf hinaus, der Weltöffentlichkeit gegenüber als reines Opfer einer einseitigen Aggression zu erscheinen. Historische Beispiele für diese Tendenz zur konsequenten Selbst-Viktimisieriung gibt es in großer Zahl. So ist es beispielsweise dem Königreich Serbien vor 1914 gelungen, seine David-Rolle gegenüber dem „übermächtigen“ KuK-Goliath an der Schwelle zum 1. Weltkrieg fast lückenlos zu entwickeln und auszubauen.

In dieser für Europa so schicksalhaften Phase gab es zumindest in Paris und London am Ende kaum noch jemanden, der nicht bereit gewesen wäre, angesichts der Hilferufe Serbiens, aktiv zu intervenieren. Die Schwelle zum unmittelbaren Kriegseintritt der „Schutzmächte“ im August 1914 war damals im vor-atomaren Zeitalter und bedingt durch die historische Gesamtkonstellation deutlich niedriger als heute. Dennoch sollte niemand die Eskalationsdynamik in der aktuellen David-gegen-Goliath-Konstellation unterschätzen. Kiew wird – allein schon aus dem Motiv der Selbsterhaltung heraus – auch in den nächsten Wochen alles daran setzen, um die bisher maximal als Waffenlieferanten auftretenden Westmächte in eine Kriegsparteien-Rolle zu drängen.

– Motive der großen Schutzmächte

War der Ukraine-Konflikt in den ersten Wochen noch von großer Unsicherheit hinsichtlich der Standfestigkeit der ukrainischen Verteidigung geprägt, haben insbesondere die USA und Großbritannien mittlerweile erkannt, welche Chancen sich bei einer massiven Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte mittelfristig bieten. Die Ausgangsbedingungen für einen echten „Stellvertreterkrieg“*** gegen den alten russischen Rivalen scheinen dabei sogar deutlich besser zu sein als in den 80er Jahren, als sich die US-Amerikaner im russisch besetzten Afghanistan lediglich auf die  „Taliban“, sprich auf eine Art „Steinzeit-Guerilla“ stützen konnten.  Im Gegensatz dazu scheint die ukrainische „Streitkräftebasis“ eine echte Herausforderung für die russischen Invasoren darzustellen, nicht nur was das Durchhaltevermögen, sondern auch was die Motivation angeht.

In Folge dieser Erkenntnis dürften die US-Amerikaner kaum ein ernsthaftes Interesse daran haben, den Krieg durch einen raschen Waffenstillstand zu beenden. Zu verlockend scheint die Möglichkeit, den Russen in einem langen, ressourcenzehrenden „Stellvertreterkrieg“ eine beachtliche Niederlage beizubringen – nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch an der so wichtigen Reputationsfront.  Inwieweit Pentagon und State Departement in diesem Kontext sogar schon auf einen mittelfristigen „Regime-Change“ im Kreml spekulieren, lässt sich momentan nur erahnen. Das rein defensive Ziel einer „Sicherung der NATO-Ostflanke“ jedenfalls dürfte in den einschlägigen Machtzirkeln längst ehrgeizigeren Zielen gewichen sein.

Wie hier die einschlägigen Strategieszenarien aussehen könnten, lässt sich am besten anhand eines kurzen Blicks auf die lange Kette von russisch-amerikanischen Stellvertreterkriegen im Windschatten des Kalten Krieges studieren. Paradebeispiele sind hier der Koreakrieg (1950-53) und (2.) Vietnamkrieg (1964-75), wo die Sowjets, den US-Amerikanern – fast ohne eigene Verluste und gestützt auf linientreue Verbündete – zwei blutige, ressourcenfressende Abnutzungskriege „aufzwingen“ konnten. In Vietnam ist es den Russen mit Hilfe ihrer massiv aufgerüsteten und gezielt ausgebildeten „Stellvertreter“ (Nordvietnam/ Vietcong) sogar gelungen, der Supermacht USA eine echte Niederlage beizubringen – auch hier nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern viel nachhaltiger noch an der internationalen Imagefront.

Als Randnotiz sei hier nur erwähnt, dass es während der großen Blockkonfrontation, also etwa zwischen 1950 und 1990, auch eine ganze Reihe von „Stellvertreterkriegen“ gab, in denen keine der beiden Supermächte unmittelbar mit eigenen Truppen involviert waren. Dabei bildete der afrikanische Kontinent spätestens seit der Kongo-Krise Anfang der 60er Jahre geradezu das eigentliche Exzerzierfeld für solche Konfliktkonstellationen. Aufschussreich sind hier vor allem die Aktivitäten der Kubaner im südlichen Afrika in den 70er und 80er Jahren, wo die Sowjetunion ihren lateinamerikanischen Verbündeten Fidel Castro immer wieder als Speerspitze im späten „antikolonialen Befreiungskampf“ gegen den Westen mobilisierte.

Eine besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang auch die sog. „Nahostkriege“ (1948/1956/1967/1973), wo sich beide Seiten – ebenfalls ohne jemals unmittelbar eingreifen zu müssen – über ihre „Stellvertreter“ (Israel versus Ägypten und Syrien) blutige Positionskämpfe am Eingang zur ölreichen Golfregion lieferten.****

– Motive raumfremder, nicht-westlicher Akteure

Richtig komplex werden die Frontstellungen im Ukraine-Konfikt, wenn man die Interessenlagen Chinas und Indiens mit ins Kalkül zieht. Während westliche Medien immer wieder den Eindruck vermitteln, als stände quasi die gesamte Weltstaatengemeinschaft mehr oder weniger geschlossen gegen Putin, sprechen die tatsächlichen Fakten eine andere Sprache.

So ist wohl nicht übertrieben, wenn man den Chinesen unterstellt, dass sie im Rahmen ihrer mittlerweile weltumspannenden politisch-ökonomischen Rivalität mit den USA, im Krieg Rußlands gegen die Ukraine ebenfalls  eine Art „Stellvertreterkrieg“ gegen ihre westlichen Hauptrivalen sehen. Unter dem Motto: Alles was die USA, sprich den Westen ressourcenmäßig bindet oder sogar schwächt, nützt uns bei unserer Aufholjagd!

Eine ähnliche Motivlage dürfte das indische Kalkül prägen. Im Kampf um die Vorherrschaft auf dem indischen Subkontinent zwischen Indien und Pakistan ist New Dehli das Bündnis des alten Rivalen mit den USA seit langem ein Dorn im Auge. Sich hier mit dem „Feind des Feindes“ zu solidarisieren, scheint aus indischer Perspektive naheliegend.

Am Schluss gehts um Europas Existenz

Auch wenn – wie beschrieben – der Ukraine-Konflikt komplexe, durchaus globale Implikationen zeitigt, steht in jedem Fall fest: Hauptleidtragende einer militärischen Ausweitung des Ukraine-Krieges wären allen voran die Europäer. Nicht nur aufgrund ihrer geographischen Nähe zum Kriegsschauplatz, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sich eventuelle „Vergeltungsschläge“ der Russen, z.B. als Reaktion auf massive Kriegsmateriallieferungen der NATO an die Ukraine, fast ausschließlich auf europäische Ziele richten dürften.

Die aktive Unterstützung beim Transfer von „foreign fighters“ ins Kriegsgebiet, die umfangreiche Weitergabe von militärisch relevanten Aufklärungsdaten in „Echtzeit“ an ukrainische Feuerleitstellen und nicht zuletzt die massive Bereitstellung von schweren Angriffswaffen für den Kampf direkt an der Kriegsfront kommen der Schwelle zwischen  „Stellvertreterkrieg“ und „unmittelbarer Kriegsbeteiligung“ gefährlich nahe.

Sollte das dominierende US-amerikanische Motiv für eine längerfristige Fortführung des Ukraine-Konflikts tatsächlich ein „Regime-Change“ im Kreml sein, erhöht sich die Gefahr eines großen Krieges in Europa immens. So verlockend eine solche „Gesamtlösung“ wäre und so stark der mediale Flankenschutz für einen solchen Weg momentan auch sein mag, am Ende könnte ein massiv in die Ecke gedrängter Kremlchef nur noch einen einzigen Ausweg sehen, nämlich die Betätigung des „roten Knopfes“.

Nicht zum Opfer Davids werden

Die Deutschen und mit ihnen eigentlich alle europäischen Bündnispartner der NATO sollten vor einem Einstieg in die ganz große Eskalation aufmerksam abwägen, ob sie ein solches Vabanque-Spiel mitgehen wollen bzw. ob sie die – vor allem von Leuten wie Selensky und Melnyk – forcierte These vom bereits begonnenen 3. Weltkrieg wirklich ernsthaft als Handlungsmaxime akzeptieren wollen.

Russland hat die neuralgischen Grenzzonen zur NATO bislang peinlichst respektiert, kommt sogar – sicher nicht ohne eigennützige Motive – seinen Gaslieferungsverpflichtigungen weiterhin vollumfänglich nach und scheint – trotz des schier unaufhaltsamen Näherrückens der NATO – bisher keine Anstalten zu unternehmen, den Krieg über die ukrainischen Grenzen hinaus auszuweiten.

Fürs eigene Überleben kämpfen

Wenn wir wirklich ergründen wollen, wer in diesem komplexen Konfliktfeld eigentlich alles gegen wen kämpft, dann reicht es einfach nicht aus täglich nur reißerische Schlagzeilen zu studieren, Hollywood-reife Auftritte von Präsidenten-Schauspielern anzuschauen oder böse Witze über die im Schwarzen Meer gesunkene „Moskwa“ zu machen. Am Ende könnte uns das Lachen schmerzlich im Halse stecken bleiben, verbunden mit der bitteren Erkenntnis, dass alle Konfiktparteien zuletzt ausschließlich ihre eigenen Interessen vertreten.

Berlin, das wissen wir spätestens seit der schroffen Ausladung unseres Bundespräsidenten, ist zwar von Kiew längst nicht so weit entfernt wie Moskau, aber wie groß die Trauer und die Anteilnahme im Kiewer Regierungsbunker sein wird, wenn die deutsche Hauptstadt in Trümmer fällt, ist denkbar ungewiss.

Wenn wir klug sind, setzen wir uns im Bündnis mit unseren europäischen NATO-Partnern rasch für eine tragfähige Friedenslösung ein und legen unseren unmittelbaren Handlungsschwerpunkt bis dahin auf den Kampf für unsere vitalen Überlebensinteressen. Verteidigung des eigenen Landes, ja. Bündnissolidarität für angegriffene NATO-Partner, ja! Aber bitte keine Marder oder Leopard-Kampfpanzer vor Charkow oder im Donbass und keine „Vorneverteidigung“ Mitteleuropas mit deutschen Waffen im Donez-Bogen.

* Eine neue Dimension hat der Ukraine-Krieg mit den Gräueltaten von Butscha bekommen. Obwohl die genauen Hintergründe der Bluttaten an Zivilisten in der Ortschaft 25 km nordwestlich von Kiew noch ermittelt werden, ist aktuell davon auszugehen, dass die Kriegsverbrechen auf das Konto der sich aus dem Gebiet zurückziehenden russischen Truppen gehen. Parallel tauchen Videoaufnahmen von ukrainischen Kriegsverbrechen an verwundeten russischen Soldaten auf. Die Verrohung der Kriegshandlungen nimmt rasant zu und lässt die Fronten verhärten.

** Das römische Imperium stützte sich vor allem in seiner Spätphase bei der Grenzsicherung auf ein System von sog. „foederati“. Ein „Klientelstaatensystem“, das im Zuge der großen Völkerwanderung vor allem germanische Stämme als Bündnispartner mit lockerer Bindung an Rom zur Absicherung der Grenzsäume einbezog.

*** Vgl. hierzu und im Folgenden den Gastkommentar von Michael Wyss von der ETH Zürich in der NZZ vom 15.4.2022. Wyss unterrichtet Strategische Studien an der Militärakademie der ETH Zürich.

**** Im weiteren historischen Kontext lässt sich durchaus auch die „Balance-of-power“-Strategie der Briten in den europäischen „Hegemonialkonflikten“ zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert als System von Stellvertreterkriegen interpretieren. So war London zwar immer wieder mit eigenen „Expeditionsstreitkräften“ im Kampf gegen die Hegemoniebestrebungen Spaniens, Frankreichs und Deutschlands „on the spot“, die weit überwiegende Hauptlast trugen jedoch die „Stellvertreter“ auf dem Kontinent. Erinnert sei hier nur an die Rolle Preußens im Siebenjährigen Krieg, wo sich Großbritannien in Europa bei dem auch in Indien und Nordamerika tobenden Krieg gegen Frankreich ganz auf den friderizianischen „Festlandsdegen“ verlassen konnte.