Wer heute nach der Bedeutung der Wissenschaften für die moderne Gesellschaft fragt, begibt sich auf ein merkwürdig polarisiertes Terrain. Was vor wenigen Jahren noch als exklusive Domäne hochspezialisierter Fachzirkel galt, hat zwischenzeitlich seinen Weg in überregionale Tageszeitungen und in die einschlägigen Blasen der sozialen Medien gefunden. Sorgen bereitet dabei vor allem der apodiktische Ton der Debatte. „Wissenschaftsgläubige“ stehen gegen „Wissenschaftsleugner“. „Alternativlose Fakten“ gegen „Fake News“ und „Wahrheit“ gegen „Verschwörungstheorie“. Unter Druck gerät in diesem Kontext nicht nur das vermittelnde Dazwischen, sondern auch die methodische Essenz moderner Wissenschaft.
Weil es in den aktuellen Debatten vor allem um die sog. „exakten Wissenschaften „, also um die mathematisch-naturwissenschaftlich fundierten Wissenschaftszweige, geht, genügt hier ein kurzer Hinweis auf die Sonderstellung der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Kaum jemand wird bestreiten, dass ihre „Wissenschaftlichkeit“ von anderer Art ist, als die der Naturwissenschaften. Ihnen fehlt nicht nur die nüchterne Zahlenbasis, sondern auch die mathematisch-abstrakte Herleitung. Helfen kann hier, die seit über 100 Jahren gängige Unterscheidung zwischen „erklärenden“ und „verstehenden“ Wissenschaften sowie die Feststellung, dass es vor allem die Physik, die Chemie, die Biologie etc. waren, die die alten Weltbilder aus den Angeln gehoben und das moderne Weltverständnis befördert haben.
Riskante Vorläufigkeit
Was in diesem Zusammenhang vor allem überrascht, ist die Tatsache, dass im Rahmen der aktuellen Kontroversen zum Thema Corona oder seit neuestem auch wieder zum Themenkomplex Klimawandel zwar laufend von „harten Fakten“, „mathematischen Modellen“ oder „wissenschaftlichen Ableitungen“ die Rede ist, man aber nur ganz selten etwas zu den Grundregeln der wissenschaftlichen Methodik liest oder hört.
Kaum jemand äußert sich derzeit ausführlicher zum Grundsatz der „Vorläufigkeit“ jeder Form von (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnis. Gemieden wird dabei vor allem der Hinweis auf den expliziten Prozeßcharakter wissenschaftlicher Forschung. Dass sich auch das „exakte Wissen“ immer wieder an der nächst höheren Ebene der (vorläufigen) Wahrheit spiegeln muss, wird ganz selten erwähnt. Auch, dass das Nachdenken sich nicht als finaler Vorgang, sondern als stetige Reflexion über eine (vorausgegangene) Reflexion vollzieht, kommt nur höchst selten zur Sprache.
Permanente Widerlegung
Ein wesentlicher Grund dafür dürfte in der Polarisierung der Diskurse zu finden sein. Wenn wissenschaftliche Fakten immer wieder unter Falsifizierungsdruck geraten und das eine Experiment schon in der Startphase befürchten muss, durch das Folgeexperiment widerlegt zu werden, entsteht genau die Unsicherheit bzw. Unbestimmtheit, die momentan kaum jemand riskieren möchte. Die Wissenschaft, so der allgemeine Tenor, ist als Barriere gegen „Unwissen“ und „Ignoranz“ derzeit viel zu wichtig, um sie ungeschützt dem freien Spiel auf dem Markt der Erkenntnis auszusetzen. Es kann deshalb nicht verwundern, dass sich aktuell selbst in den Leitmedien immer wieder Wendungen wie „Glauben an die Wissenschaft“ oder auch Thesen rund um die vermeintliche „Unumstößlichkeit“ akuter Erkenntnisse finden.
Kann das gut gehen? Läßt sich einmal gewonnene Erkenntnis dauerhaft gegen fundierte Zweifel immunisieren? Welchen Anteil an der Durchsetzung wissenschaftlich begründeter Maßnahmen hat das laienverständliche Erklären von wissenschaftlichen Zusammenhängen? Oder anders: Muss ich mein Handeln auch dann aufwändig erklären, wenn ich mir sicher bin, dass es vom derzeitigen Erkenntnisstand der Naturwissenschaften gedeckt ist? – Schwierige Fragen angesichts komplexer Herausforderungen und begrenzter Handlungsoptionen.
Kompatible Methoden
Was zuversichtlich stimmt, ist die Tatsache, dass pluralistische Demokratien mit ihrem politisch gewollten und verfassungsrechtlich zulässigen Streit um die besseren Argumente in hohem Maße kompatibel sind, mit den Debattenregeln wissenschaftlicher Communities. In beiden Zusammenhängen geht es um den offenen Diskurs, über das laute Nachdenken und die mutige Bereitschaft zur (Selbst-)Widerlegung.
Problematisch wird die Sache erst dann, wenn diese öffentlichen Diskurse beendet werden, ehe sie richtig begonnen haben. Wenn auf prononciert vorgetragene öffentliche Zweifel nicht mit verstärkter Aufklärung reagiert wird, sondern mit rascher Ausgrenzung. Holzschnittartige Zuschreibungen à la „Coronaleugner“ oder „Klimaleugner“ ähneln in ihrer Diktion, Kampfbegriffen mittelalterlicher Religionskonflikte. Sie bringen weder einen echten Erkenntnisgewinn noch eine Klärung der offenen Sachfragen. Im Gegenteil: Sie polarisieren und suggerieren Eindeutigkeit, wo echte Lösungen nur von einem multidimensionalen Zugriff her zu erwarten sind.
Sinnsuche
Ein zentraler Grundsatz moderner Naturwissenschaft ist die prinzipielle Werturteilsfreiheit des Erkenntnisinteresses. Die Naturwissenschaften gebären auf phänomenale Weise technischen Fortschritt, lassen aber den Sinnsucher in der Regel ohne befriedigende Antworten. Physik, Astronomie, Chemie und Biologie haben – um den großen deutschen Soziologen und Nationalökonomen Max Weber zu zitieren – unsere Welt zwar nachhaltig „entzaubert“ und flächendeckend von Göttern und Dämonen befreit, uns auf diesem Wege mit unseren zentralen Sinnfragen aber weitgehend allein gelassen.
Erklärungsnöte
Wer diesen Umstand vernachlässigt oder gar negiert, weicht nicht nur einer notwendigen wissenschaftsethischen Debatte aus, sondern kann im Endresultat auch nicht plausibel erklären, warum es selbst in der „aufgeklärten“ Moderne immer noch sehr viele Menschen gibt, die sich außerhalb des plausibel Belegbaren auf die Suche nach sinnstiftenden Erkenntnissen machen. Obwohl wir uns im Zuge der bürgerlichen Aufklärung und im Prozeß der wissenschaftlich-technischen Revolutionen daran gemacht haben, das Religiöse bzw. das Übernatürliche aus unserem Gedankenhaushalt zu verdrängen, ist der Sog der „einfachen Erklärung“ immer noch maßgeblicher Bestandteil unserer Weltsicht.
Dass es auf diesem vormodernen Feld der nicht-wissenschaftlichen Ursachenfindung immer wieder bedenkliche Zuspitzungen gibt und dass sich das – vor allem in Krisenlagen – immer wieder falsche Propheten zunutze machen, lässt sich nicht bestreiten. Hier sind Wachsamkeit und stringente Argumentation unerläßlich.
Kritikfähig bleiben
Problematisch wird die Sache erst dann, wenn kritischer Geist oder nachvollziehbare Besorgnis per se als indiskutabel gebranntmarkt und wissenschaftliche Erkenntnisse unhinterfragt in den Status „unumstößlicher Wahrheiten“ gehoben werden. Das widerspricht im Kern dem modernen Anspruch an wissenschaftliche Beweisführung und mindert die Reformfähigkeit offener Gesellschaften auf signifikante Weise.
Wissenschaftliche Erkenntnis bleibt – so wie im Vorangegangenen beschrieben – per definitionem immer vorläufig und muss stets bereit sein, sich im nie enden wollenden Gespräch dem Widerspruch bzw. dem zweifelnden Einwand zu stellen. Das Motto “ Einmal Wissen schaffen und dann ist´s gut!“ kann niemals ernsthaft der handlungsleitende Maßstab für eine „Wissensgesellschaft“ sein. Erst ihre Fähigkeit zum offenem Umgang mit fundiertem Zweifel macht sie zukunftsfest.