Es ist kaum zu fassen? Eigentlich sind sie doch die Lautesten im Lande, die Vernehmbarstes. Diejenigen, die das Schicksal mit dem Talent der Rhetorik oder zumindest mit der Gabe der literarischen Stilistik ausgestattet hat. Die Intellektuellen, unsere Vordenker, unsere geistigen Taktgeber? Wo sind sie? Wir hören sie nicht. So angespannt wir auch lauschen, so fein wir unsere Gehörgänge auch justieren, der Widerhall bleibt schwach, ist kaum zu vernehmen oder einfach nur viel zu leise, um wahrgenommen zu werden.
Grund genug zum Einmischen, zum Reinreden, zum Engagieren wäre in jedem Fall: Kriegsgefahr im Osten Europas, eine in der Nachkriegszeit bisher einmalige Einschränkung von Grundrechten im Rahmen der Pandemiebekämpfung, eine rapide Zunahme sozialer Ungleichheit, eine zunehmende Erosion universitärer Meinungs-und Wissenschaftsfreiheit und dann auch noch ein gespenstisch anmutendes „Sportfest“ mitten in einem autoritären Überwachungsstaat.
Who is intellectual?
All das scheint nur eine kleine Minderheit im Lager der Vordenker wirklich ernsthaft zu tangieren. Die breite Intellektuellenszene schweigt beharrlich oder reiht sich an vielen Stellen sogar einfach nur ein in den großen Einheitschor. – Was ist da los? Artikulieren sich die Angesprochenen wirklich nicht oder senden sie einfach nur auf einer anderen Frequenz?*
Wer Intellektuelle kritisiert, muss zunächst einmal erklären, wen er mit diesem schillernden Begriff überhaupt meint. Spätestens seit Émile Zola und den Dreyfusards ringen Publizistik und Feuilleton um eine angemessene Definition. Dass vor allem Professoren, Journalisten und Autoren in diese Kategorie gehören, dürfte geläufig sein. Die von Karl Mannheim Ende der 20er Jahre gebaute Behelfsbrücke á la „freischwebende Intelligenz“ öffnet zusätzliche Verständniswege, macht aber die notwendige Eingrenzung nicht gerade einfacher.**
Engagierte Beobachter
Verständigen wir uns auf die wortmächtige, aber zahlenmäßig überschaubare Gruppe der „öffentlichen Intellektuellen“, die traditionell eher in Frankreich („intellectuel“) oder im angelsächsischen Raum anzutreffen ist, und die sich durch ihre öffentliche Präsenz, ihre diskursive Wucht und vor allem durch ihre geistige Unabhängigkeit auszeichnet.
Für pluralistische Gesellschaften ist dieser illustre Kreis vor allem als kritische Widerspruchsinstanz, als Widerpart zur Machtentfaltung des Staates vom Grunde her unverzichtbar. Ralf Dahrendorf, der deutsch-britische Soziologe und Publizist, der sich vornehmlich in seinem Spätwerk immer wieder kritisch mit der Rolle des Intellektuellen im politischen Meinungsstreit auseinandergesetzt hat, formuliert eine Art „Tugendkanon“ liberaler Intellektualität und rückt dabei neben Faktoren wie „Fähigkeit zum Leben im Widerspruch“, „Besonnenheit des engagierten Beobachtens“ und „Weisheit der kritischen Vernunft“ insbesondere den „Mut zum Einzelkampf um die Wahrheit“ in den Vordergrund.***
Einsamkeit als Preis der Freiheit
Dass diese letztgenannte Eigenschaft selbst geistige Kapazitäten von hohem Rang an die Grenze des Aushaltbaren führt, dürfte nachvollziehbar sein. Sich im strammen Gegenwind zu behaupten, seine begründete Position auch dann eisern weiter zu vertreten, wenn Einsamkeit, Stigmatisierung oder am Ende gar Verbannung droht, übersteigt in vielen Fällen selbst die Kraft selbstbewußtester Naturen.
Hinzu kommt, dass selbst die Mutigsten unter diesen vehementen „Einzelkämpfern“ erkennen müssen, dass ihre intellektuelle Entdeckungsfahrt niemals dazu dienen kann, die (alleinige) Wahrheit zu finden, sondern es lediglich darum geht, sich auf die anstrengende Suche nach der Wahrheit zu machen. Ein echter Intellektueller operiert vor dem Horizont der Ungewißheit und muss sich eingestehen, dass jede Erkenntnisstufe, die er erreicht, nur im Modus von Trial and Error mühsam erklommen werden kann.
Schutzpanzer der Unabhängigkeit
Wer das Intellektuellen-Dasein solch ambitionierten Kategorien unterwirft, muss sich bei der Suche nach geeigneten Protagonisten von vornherein auf Enttäuschungen gefasst machen und sollte die Intellektuellenschelte deshalb auch nicht überziehen. Der „Intellectual“, der Einsamkeit wählt, wo eigentlich Popularität und staatliche Auszeichnung möglich wären und der selbst dort widerspricht, wo fast alle gegen ihn stehen, muss über starke innere Abwehrkräfte und zur Not über eine Art Schutzpanzer der Unabhängigkeit verfügen.
Dass dennoch gerade in Krisenzeiten solche Charaktere unverzichtbar sind und uns in unserer momentanen Krisenlage an allen Ecken und Enden fehlen, habe ich bereits angedeutet. Warum sie uns so sehr fehlen, wird erst wirklich deutlich, wenn wir die großen politischen Debatten der letzten Jahre noch einmal kurz vor unserem geistigen Auge Revue passieren lassen.
Alternativlose Magerkost
Alles was wir seit 2009/10 (Eurokrise), 2011 (Fukushima) und dann vor allem seit 2015 (Migrationskrise) erlebt und debattiert haben, ist schon nach kurzer Zeit in einem Morast aus Schwarz und Weiß versunken. Statt Argumente zu wägen und Lösungsvarianten zu diskutieren, haben wir reihenweise „Alternativloses“ präsentiert bekommen. Statt den Andersdenkenden als gleichwertigen Sparringspartner im fairen Meinungsstreit zu akzeptieren, wurden im politisch-medialen Raum reihenweise „Verwünschungsformeln“ kreiert.
Überall schossen „Europafeinde“, „Klimaleugner“, „Querdenker“ oder gar „Verschwörungstheoretiker“ aus dem Boden. Nicht nur wenn es um wahrhaftig Abwegiges bzw. Abseitiges ging, kamen diese Ausgrenzungsformeln zur Anwendung, sondern auch wenn echte Sachargumente auf den Tisch kamen.
Flaches Schwarz-Weiß
Auf diese Weise mutierten fast alle Debatten zu merkwürdigen Schlammschlachten, in denen am Schluß kaum noch jemand wagte sich anders oder abweichend zum Mainstream zu artikulieren. Wer wollte schon zu den öffentlich stigmatisierten Ungläubigen gehören?
Genau in diesen Phasen der Resignation und der großen Schweigespirale hätte es massiver intellektueller Power bedurft. Genau an diesen markanten Bruchstellen der öffentlichen Debatte wären die kritischen Stimmen öffentlicher Intellektueller so wichtig gewesen. Sie hätten uns gezeigt, dass moderne Gesellschaften in der Lage sein müssen, Konflikte und Widersprüche nicht nur auszuhalten, sondern für den Lösungsweg fruchtbar zu machen.
Felder des Einspruchs
– Dass die Pandemiebekämpfung von Anfang an unter dem Übergewicht rein virologischer Prämissen gelitten hat, wird erst jetzt in der Endphase des Omikron-Finales richtig deutlich. Der frühzeitige, lautstarke Aufgalopp der anderen wissenschaftlichen Professionen, allen voran der Soziologie, der Ökonomie und der Psychologie, hätte möglicherweise geholfen Fehlsteuerungen zu vermeiden und überzogene Grundrechtseinschränkungen zu verhindern.
– Ein mindestens ebenso gravierender, wenn auch indirekter Folgeeffekt der Corona-Lockdown-Maßnahmen zeigt sich im Bereich der Vermögensverteilung. Während vor allem die kleinen und mittleren Einkommen in den Sog von Geschäftsschließungen und quasi-enteignender Billiggeldpolitik gerieten, hat das Promille der Superreichen weitere unfaßliche Vermögensgewinne abschöpfen können. Auch hier hätte ein rechtzeitiger, vernehmbarer Aufschrei der Intellektuellen möglicherweise Schlimmeres verhindern können.****
– Im Bereich der universitären Wissenschaftsfreiheit rollt seit Jahren die Lawine des „Wokismus“. Eine organisierte Linke versucht abweichende Meinungen aus dem inner-universitären Diskurs zu verdrängen und statt Leistung und Vorbildung, werden ethnische Zugehörigkeit und Geschlechterproporz als dominante Auswahlkriterien etabliert. Die Militanz dieser Kräfte ruft erste zaghafte Gegenreaktionen hervor. Der Widerstand in der Breite lässt leider noch auf sich warten.*****
– Eine geradezu groteske Zuspitzung erlebt die globale Welle des exekutiven Durchgriffs momentan im olympischen China. Lebensfremde Restriktionen, die man nicht mal seinem ärgsten Feind wünscht, werden an jungen Sportlern ausprobiert. Kontrolleure mit luftdichten Raumanzügen in kalten Mondlandschaften fern ab jeder Empathie und jeder Natürlichkeit machen Olympia zu einer ausgewachsenen medialen Farce. Wie wichtig hier ein lautes, vernehmliches „Es reicht“ aus der Intellektuellenszene wäre, muss eigentlich nicht extra betont werden. Dass stattdessen unverdrossen weiter gesendet wird, ist mindestens genauso erschütternd.
Also noch mal, auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Diskurs in pluralen Gesellschaften kann niemals mit dem Ziel der Einstimmigkeit geführt werden. „Die Wissenschaft“ als den unumstößlichen Wahrheitsgaranten zu verkaufen, führt unweigerlich in die Irre.
Blockiertes aufbrechen
Es gibt – so schön es ja wäre – keine höhere „objektive“ Wahrheit – schon gar nicht im politischen Raum. Der am kritischen Rationalismus geschulte, liberale Intellektuelle darf nicht länger schweigen. Sein gezielter Einspruch kann die blockierten Debatten aus der Sackgasse holen und bietet die Chance Denksperren durch kritisches Hinterfragen aufzubrechen.
Dass genau dieses Hinterfragen in den letzten rd. anderthalb Jahrzehnten weitgehend ausgeblieben ist, lag – wie oben beschrieben – zu einem wesentlichen Teil daran, dass sich die Intellektuellenszene entweder in den Elfenbeinturm zurückgezogen hat oder sich in staatlicherseits gebildete „Expertenbeiräte“ berufen ließ.
Nicht nachsprechen, sondern offen hinterfragen
„Staatswissenschaft“ und verbeamtetes Akademikertum gehen auf Dauer zu Lasten offener Gesellschaften. Vor allem Deutschland hat in den zurückliegenden Jahren unter dieser Artikulationslücke beträchtlich gelitten. Es ist höchste Zeit diese Lücke wieder zu füllen und schöpferischen Streit wieder zuzulassen.
Nur eine Gesellschaft, die den sachlich ausgetragenen Konflikt als Quelle des Neuen begreift, kann im Horizont der Ungewißheit die Lebenschancen seiner Bürger vergrößern. Gesellschaften, die das nicht erkennen und deren Intellektuelle sie in dieser Fehlwahrnehmung auch noch bestärken, werden auf längere Sicht zu geschlossenen Gesellschaften, verlieren ihre Innovationskraft und fallen zurück. Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt.
* Beim Thema „Senden auf der anderen Frequenz“ ist vor allem der „geheimsprachliche“, sprich hochakademische Austausch in Intellektuellenkreisen gemeint. Der Diskurs ist nur für Eingeweihte verständlich, der Laie bleibt außen vor. Solche hochartifiziellen Diskurse gehen allein aufgrund ihrer geheimsprachlichen Verpackung an der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbei.
** Das eher konservative Magazin Cicero veröffentlicht regelmäßig eine Liste der 500 wichtigsten deutschsprachigen Intellektuellen. In der jüngsten Ausgabe steht erneut – wie schon 2019 – Peter Sloterdijk auf Platz 1, vor dem Schriftsteller Peter Handke, dem Philosophen Jürgen Habermas und der Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Christian Drosten (!) rangiert als „Newcomer“ auf Platz 18.
*** Wer sich mit den Untiefen des Intellektuellendaseins, insbesondere im Laufe des konfliktreichen 20. Jahrhunderts, befassen will, der sollte zu Dahrendorfs Buch „Versuchungen der Unfreiheit – Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung“ greifen. Wer eine Ahnung davon bekommen will, was uns heute vor allem in Deutschland an kritisch-intellektueller Durchschlagskraft fehlt, sollte sich die von Dahrendorf aufgefächerten Biographien seiner „Erasmier“ Karl Popper, Isaiah Berlin, Raymond Aron, Noberto Bobbio, George Orwell, Arthur Koestler und Manes Sperber vornehmen.
**** Allein die Vermögen der zehn reichsten Menschen der Welt – darunter Jeff Bezos, Warren Buffet, Bill Gates und Elon Musk – haben sich während der Pandemie nicht weniger als verdoppelt – von rd. 700 Mrd. US-Dollar auf rd. 1,5 Billionen US-Dollar. Die Aktien von Big Tech und Big Pharma haben parallel gewaltige Kurssteigerungen erlebt. Die Zahl der Milllionäre in Deutschland stieg allein im Coronajahr 2020 um 69.000.
***** Hoffnung macht ein Aufruf der Uni Hamburg zur Stärkung der Wissenschaftsfreiheit. Wie dringlich dieser „Hilferuf“ ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass die Universität sich zu einem solchen Schritt überhaupt veranlasst sieht und dabei eigentlich nur absolute Selbstverständlichkeiten zur Sprache bringt.