Zusammen leben

Leben wir in einer gespaltenen Gesellschaft? Diese für unser gedeihliches Zusammenleben so wichtige Frage, wird aktuell höchst unterschiedlich beantwortet. Ein klares Nein lässt sich von unserem frisch gewählten Bundeskanzler vernehmen, der anläßlich seiner Amtsübernahme all jene heftig kritisierte, die aktuell die Botschaft von der gespaltenen Gesellschaft verkünden bzw. verbreiten. Wir sind nicht gespalten, wir sind nur (noch) nicht alle einer Meinung, so Olaf Scholz, knapp zusammengefasst Anfang der Woche in der Bundespressekonferenz.  Andere Stimmen sind da deutlich skeptischer, wie kürzlich erst Alexander Kissler in der NZZ, der nicht nur von einer gespaltenen, sondern gar von einer „zerrissenen Gesellschaft“ sprach. – Also was nun? Redet uns da nur jemand etwas ein oder ist da doch was dran, an der These vom Spaltpilz mitten im Geflecht unseres Gemeinwesens?

Historisch-politisch betrachtet ist das mit dem großen gesellschaftlichen Konsens so eine Sache. Haben wir unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung nicht gerade deshalb geschaffen, um politischen Streit zivilisiert austragen zu können? Sind nicht all unsere gewaltenteiligen Institutionen Ausfluß der Grunderkenntnis vom andauernden Richtungs- und Meinungsstreit. Ist die homogene Gesellschaft ohne Ecken und Kanten nicht eine utopistische Schimäre?

Homogenisierungsphantasien

Mehr noch! Ist die Vision von der ganz großen Einmütigkeit nicht sogar brandgefährlich? Heißt das nicht immer auch Verdrängung von Minderheiten, politische Repression oder im äußersten Fall sogar gewaltsame Planierung von Debattenzonen?  Was passiert mit Gesellschaften, in denen immer öfter versucht wird, Unbequemes oder Nicht-Kompatibles mit viel medialer und politischer Wucht glatt zu ziehen? Ist die Homogenisierung von Gemeinwesen nicht stets mit erheblichen Kollateralschäden verbunden?

Nehmen wir nur die Große Französische Revolution: Einerseits tatkräftiger Taktgeber der Moderne, andererseits aber bereits in ihren frühen Anfängen ein Hort für aggressive „Einmütigkeitsphantasien“ „Was ist der Dritte Stand? – Nichts! Was soll er sein? Alles!“ – Hinter diesem historischen Schlüsselzitat des Abbé Sieyes aus dem Jahre 1789 stand eben nicht nur eine einigende, befriedende Botschaft, sondern zugleich ein mächtiger Ausgrenzungsimpuls.*

Einig und unteilbar

Wenn es – laut den Revolutionären –  in Zukunft nur noch eine „unteilbare Nation“ auf der Grundlage des „Dritten Standes“ geben konnte, was sollte dann mit den beiden anderen „Ständen“ passieren? Wo sollten Adel und Klerus bleiben unter den Bedingungen der neuen Totalität? Die radikale Antwort der Sansculotten auf diese Gretchenfrage der Revolution stand monatelang am Rande der Tuilerien umringt von Tausenden von Schaulustigen mitten in Paris, nannte sich „Guillotine“ und fraß am Schluß sogar die „Kinder der Revolution“.**

Wie gehen wir mit solchen zugebenermaßen extremen Negativbeispielen im Spannungsfeld zwischen maximaler Geschlossenheit und pluraler Vielfalt um? Wie besetzen wir die Grauzone zwischen den beiden gegensätzlichen Polen? Sicher gibt es Mittelwege. Aber wie sehen die aus oder wie können wir dieses Zwischenreich – selbst in einer Zeit großer politischer Kontroversen – produktiv füllen?

Debats under pressure

Um es vorwegzunehmen: Nicht so, wie wir es momentan versuchen. Und auch nicht mit den aktuell präferierten Instrumenten. Wie oben angedeutet, leben plurale Demokratien vom sanktionsbefreiten Diskurs und von einem gewaltenteiligen Prozess aus Checks and Balances. Beide Schlüsselmechanismen erfolgreicher Demokratien geraten aktuell in weiten Teilen der westlichen Welt unter Druck und lassen einige bedenkliche Auszehrungssymptome erkennen.

Mit der Einengnung der freien Rede haben wir uns in diesem Blog schon mehrfach kritisch auseinandergesetzt. Die Verstopfung der medialen Kanäle mit aktivistischem Haltungsjournalismus, die bisweilen nur noch schwer zu ertragende Hofberichterstattung insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die immer weiter um sich greifende Schwarz-Weiß-Polarisierung kamen dabei ebenso zur Sprache, wie die wachsenden Unwuchten im gewaltenteiligen Prozess.

Feinderkennung

Besonders problematisch wirkt dabei das auf gesellschaftliche Exklusion ausgerichtete Modell einer „Verfeindungs-Rhetorik“. Andersdenkende werden in diesem Kontext nicht – wie eigentlich in pluralistischen Systemen üblich – mit Argumenten „widerlegt“, sondern in wachsendem Maße mit „Ausgrenzungsvokabeln“ und „Pranger-Strafen“ belegt. Was dabei leider immer öfter verloren geht, ist das Verständnis für unterschiedliche Betroffenheiten, für die Ergebnisoffenheit auch und gerade von wissenschaftlichen Diskursen*** und für das unstillbare Verlangen vieler Menschen nach Selbstverantwortung und Selbstwirksamkeit.

Ohnmachtsgefühle

Die damit verbundene Gefahr ist, dass immer mehr gesellschaftliche Gruppen in politische Randzonen abgedrängt werden, in denen sich Frust und Widerstand aufstaut und in denen am Ende sogar das Vertrauen in die großen gesellschaftlichen Institutionen verloren zu gehen droht.

Dabei lässt sich immer wieder das gleiche Phänomen beobachten: Das Gefühl nicht gehört oder nicht verstanden zu werden, schlägt in ein Gefühl der Ohnmacht und des Ausgegrenzt-Seins um. Gesellschaftliches Urvertrauen beginnt zu erodieren und selbst Gruppen, die man vor kurzem noch in der Mitte der Gesellschaft verortet hat, verlieren die Anbindung und wandern frustriert an die Ränder ab.

Zurück in die Balance

Aber Hand aufs Herz: Können wir wirklich alle mitnehmen? Ist es nicht vollkommen illusorisch, die Debatte so lange zu strecken bis alle in einen großen Kompromiss einwilligen? – Nein, natürlich nicht! Darum geht es auch gar nicht. Sondern es geht schlicht und einfach um die richtige Balance zwischen unverdrängbar nebeneinander stehenden widerstreitenden Meinungen sowie um das notwendige Gleichgewicht zwischen staatlichem Durchgriff einerseits und den grundgesetzlich verankerten Abwehrrechten der Bürger andererseits.

Hoffen wir, dass die neue Bundesregierung und die sie tragenden Parteien die Kraft finden, diese sensible Balance wieder zurück ins Lot zu bringen. Die vielen „alternativlosen“ Projekte der  16 Merkel-Jahre haben in weiten Teilen der Gesellschaft große Unsicherheit hinterlassen. Die Probleme in zentralen Politikbereichen (Euro, Migration, Energie & Klima, öffentliche Verschuldung und identitätspolitischer Illiberalismus) wurden nicht wirklich gelöst, sondern im wesentlichen nur vertagt. Die gesellschaftliche Polarisierung ist nicht geringer, sondern an wichtigen Sollbruchstellen größer geworden.

Kultur des Respekts

Die „Ampel“ wird sich daran messen lassen müssen, ob es ihr gelingt, den Schlüsselsatz am Anfang ihres Koalitionsvertrages

„Wir wollen eine Kultur des Respekts befördern – Respekt für andere Meinungen, für Gegenargumente und Streit, für andere Lebenswelten und Einstellungen“

Wirklichkeit werden zu lassen. Ob es ihr gelingt, das vielerorts bedrohte zivilisierte Miteinander zu reanimieren und ob sie es schafft überzogene bzw. verletzende Rhetorik zu zügeln.

Die jüngste Drohung des neuen Kanzlers vor ein paar Tagen – in einer offiziellen Tweetbotschaft – in Zukunft „keine Rücksicht mehr auf rote Linien zu nehmen“ lassen wenig Gutes erahnen.

Vielleicht hilft uns ja eine Wendung unseres Bundespräsidenten aus dem verzwickten Dilemma, der kürzlich angesichts zunehmender Verhärtungen im öffentlichen Diskurs schnellstmögliche verbale Abrüstung anmahnte – unter dem schlagkräftigen Motto:

„Gerade jetzt sollten gute Argumente sprechen, nicht Verachtung, nicht Wut, schon gar nicht Hass. Wir wollen uns auch noch nach der Krise in die Augen schauen können!“

 

* Emmanuel Joseph Sieyes (1748 – 1836) war Priester, Staatsmann und einer der führenden theoretischen Köpfe der Französischen Revolution. Er hatte im Januar 1789 in einem politischen Essay unter dem Titel „Was ist der Dritte Stand?“ die Grundbotschaft der anti-aristokratischen Stoßrichtung der wenige Monate später ausbrechenden Revolution formuliert. Danach sollte es fortan auf der Grundlage einer Art „Homogenisierungsfiktion“ nur noch eine einzige „nation indivisible“ geben. Die radikale Konsquenz aus dieser noch sehr theoretischen Botschaft zogen Robespierre, Marat & Co in der zweiten Phase der Revolution ab August/September 1792  im Zuge des „Grande Terreur“.

** Zu den Hintergründen, aber auch zu den Pathologien der Großen Französischen Revolution sei an dieser Stelle das dreiteilige Interview mit Peter Sloterdijk auf deutschlandfunkkultur.de aus dem November 2018 empfohlen.

*** Die geradezu inflationäre Berufung auf bestimmte Aussagen „der Wissenschaft“ gerade in den öffentlich-rechtlichen Medien, aber auch in den Kommentarspalten privater Printmedien lassen oft wenig Gespür für die systemimmanente „Vorläufigkeit“ wissenschaftlicher Erkenntnis erkennen. Das stakkatoartige  „Nachsprechen“ von ausgesuchten Expertenmeinungen und die in vielen Medien allgegenwärtige Wendung vom „Glauben an die Wissenschaft“ geben immer wieder Anlaß zur Medienkritik. Geändert hat sich an dieser Praxis in den zurückliegenden Jahren leider nur wenig.